Kurzgeschichten
Hier zu finden:
o Die Matriarchin
und der Kuckuck
o Nilos Reise
o Eine herbstliche
Weihnachtsgeschichte
Eine kleine, zur Kurzgeschichte umgeformte, Passage aus meinem kommenden Roman. Arbeitstitel "Kuckolores" - In der Hauptrolle ein Kuckuck, der trotz aller Startschwierigkeiten seinen Flug in den Süden wagt und im Regenwald allerlei Abenteuer erlebt. 🌍 🐣
Sie erschien bereits in meinem Lyrikband Die Liebe sollte aller Zeiten Weg sein . Es schien mir passend sie ans Ende dieses Buches zu setzen. Eine kleine Geschichte, die zeigt, dass was uns verbindet, stets stärker sein wird, als das , was uns trennt. 🐘 💚🕊️
In manch sternenklaren Nächten verspürte Earl ein seichtes Kribbeln in seinem Schnabel. Aber noch war der Zeitpunkt nicht gekommen, in den Norden zurückzukehren. Stattdessen verbrachte er seine Tage mit Juno Fluss. Er lernte viel über das Elefantenjunge und deren Herde, auch wenn er sich von dieser lieber fernhielt.
Letztendlich musste Earl feststellen, dass die Dickhäuter ein ähnliches Sozialgefüge wie die Menschen hatten. Innerhalb der Herde gab es einzelne Gruppierungen. Zusammengefasst unter der Führung der Matriarchin, Junos Großmutter. Eine alte Elefantenkuh, die schon allerhand erlebt hatte. Zumeist stand sie abseits der anderen und wachte von einem Hügel aus auf sie.
Sie war streng zu Juno. Kalt, wie diese Earl erzählte. Eben wie der Rest der Herde, denn gruppenübergreifend fühlte sich jeder Elefant für die Aufzucht der Jungen zuständig. Die versteiften Regeln dieses Sozialgefüges ließen wenig Raum für einen Querkopf wie Juno. Nicht selten stieß sie sich mit ihrer Neugier an dem Grundsatz von – »weil wir das schon immer so gemacht haben« und »weil ich es dir sage«.
Das kleine Elefantenkalb erinnerte Earl an sich selbst. An den verwirrten Jungvogel, der sich an der Weite der Welt stieß und sich fragte, wo sein Platz darin liegen würde. Er hatte ihn gefunden und bestärkte Juno, dasselbe zu tun.
Der Rest der Herde beäugte den Kuckuck mit Argwohn. Sie sahen nichts weiter als einen Herumtreiber in ihm. Junos Mutter hielt ihn für einen schlechten Umgang und auch die Matriarchin strafte Earl stets mit Blicken des Misstrauens.
Das führte dazu, dass Earl und Juno ihre Treffen auf die andere Seite des Flusses verlegten. Doch eines Tages, als der Kuckuck wieder am vereinbarten Treffpunkt erschien, tauchte das Elefantenkalb nicht auf. Earl wartete. Er wurde unruhig, denn auch wenn er den Rest der Herde auf der anderen Seite am Ufer sah, konnte er Juno nicht unter ihnen ausmachen. Er flog das Ufer ab und suchte nach ihr, aber von dem Kalb fehlte jede Spur. So sammelte er seinen Mut und flog zu den Elefanten auf die andere Seite des Flusses.
Die Dickhäuter überschütteten ihn mit urteilenden Blicken. Am Rande der Herde, im Schatten des Unterholzes, entdeckte er Junos Mutter. Entgegen seinem Unbehagen flog er auf sie zu und landete auf dem Baum vor ihr.
»Wo ist Juno? Ich mache mir Sorgen«, fragte er aufgeregt.
Die Elefantenkuh warf ihm einen grimmigen Blick zu.
»Ich dachte, sie wäre bei dir«, entgegnete sie. »Zumindest sagte sie das, als sie heute Morgen ging.«
»Nein – sie kam nicht. Ich habe den Fluss abgesucht, ich kann sie nicht finden …«
Plötzlich wackelten die Äste. Der Boden bebte unter den Füßen der alten Leitkuh, die aus der Menge auf Earl zukam und vor seinem Ast stehen blieb.
»Wenn ihr uns zwei allein lassen würdet«, sagte sie und gab Junos Mutter sowie dem Rest der Herde zu verstehen, sich zurückzuziehen, ehe ihr Blick auf Earl fiel.
Eingeschüchtert flog dieser auf einen höheren Ast.
»Ich … ich mache mir nur Sorgen«, sagte er.
»Wie wir alle. Seit Wochen redet Juno von nichts anderem«, entgegnete die Matriarchin mit bösem Blick.
»Ich ... Ich verstehe nicht ganz«, erwiderte Earl.
»Was gibt es da nicht zu verstehen?! Sie ist ein Elefant, du ein dahergeflogener Tagedieb. Ständig redet sie davon, wie toll du doch seist. Die Dinge, die du bei den Menschen erlebt hast und dass hinter der Wüste nicht das Ende der Welt auf sie wartet.«
»Es ist die Wahrheit – du kannst sie nicht ewig davor behüten.«
»Nein, aber vor dir kann ich sie beschützen. Wir Elefanten leben seit tausenden Jahren in diesem Wald. Generation über Generation. Bis du hier auftauchtest und Juno all diesen Unsinn in den Kopf gesetzt hast.«
»Das kannst du mir nicht anhängen«, verteidigte Earl sich. »Die Kleine ist, wie sie ist. Vielleicht wäre sie nicht verschwunden, wenn ihr ihr öfter zugehört hättet, anstatt sie ständig kleinzureden.«
»Die Stärke der Herde liegt in ihrer Geschlossenheit. In diesem Wald kann es tödlich enden, wenn sich einer nicht an die Regeln hält.«
»Regeln«, erwiderte Earl spöttisch. »Die Kleine sehnte sich doch nur danach, erhört zu werden ...«
»Frei zu sein – genau wie du. Ich weiß von dem Unsinn, den du ihr erzählt hast«, entgegnete die Matriarchin und blickte traurig zu Boden. »Juno war schon immer etwas anders. Wenn alle rechts gehen, geht sie links. Wenn alle anderen fragen, warum – fragt sie, warum nicht«, seufzte die Matriarchin und die kaltherzige Bissigkeit in ihrem Gesicht wich Sorge und Trauer. »Wir haben sie seit dem Morgen nicht gesehen. Bald wird es Nacht ... Hat sie dir etwas gesagt? Weißt du, wo sie sein könnte?«
Earl dachte an sein letztes Treffen mit Juno zurück.
»Ja … vielleicht war da was – sie erzählte mir von ihren Träumen.«
»Es wird ja immer verrückter! Ein Elefant, der träumt … Würde sie nur im Stehen schlafen, wie alle anderen …«
»Sie sagte, sie sehe diesen Wald in einem hellen Flackern. Wie er dabei ist, zu sterben. Vor ein paar Tagen erzählte sie mir von einem sonderbaren Geräusch oberhalb des Wasserfalls, am anderen Hang der großen Berge.«
»Das passt zusammen. Kürzlich hat sie die Herde darüber ausgefragt …«, überlegte die alte Leitkuh und biss sich mit ihrem Blick in Earls Augen fest. »Aber das ist nicht alles, oder?«
»Nein … ich versprach ihr nachzusehen …«
»Und?«
»Das Geräusch kam von den Menschen. Sie fällen die Bäume an den äußeren Bergenhängen des Tals. Etwas weiter südlich haben sie ein Lager errichtet. Ich halte sie für gefährlich. Sie haben einen Leoparden erschossen und Hunde bei sich.«
»Lass mich raten … Juno wollte trotz allem dorthin?«
»Sie war davon überzeugt, dass das Erscheinen der Menschen mit ihrem Traum zusammenhängen musste. Es … es war nicht so, als hätte ich nicht versucht, es ihr auszureden«, erinnerte Earl sich an den letzten Morgen zurück. »Wenn ich recht zurückdenke, haben wir uns sogar deswegen gestritten.«
»Diesen Keim hast du ihr in den Kopf gesetzt … Bald wird es Nacht werden«, schnaubte die Matriarchin und lief unruhig auf und ab, ehe sie stehen blieb und zu Earl aufblickte. »Vielleicht sollte dies nicht der Zeitpunkt für Schuldzuweisungen sein«, sagte sie mit ruhiger werdender Stimme. Der Zorn darin war verschwunden. »Finden wir Juno. Wenn dir an ihr nur halb so viel liegt wie mir, dann wirst du mich begleiten.«
»Finden wir sie«, entgegnete der Kuckuck, dem es ebenfalls fern lag, die Zeit mit Streitigkeiten zu verbringen. Für den Moment war ihm nur wichtig, Juno in Sicherheit zu wissen. Eben wie der alten Matriarchin.
So machten sie sich auf den Weg, das verschollene Kalb zu suchen. Sie folgten dem Flussverlauf Richtung des Wasserfalls. Earl überflog den Wald und beobachtete die ufernahen Büsche aus der Luft, doch von Juno fehlte weiterhin jede Spur.
In der Dämmerung erreichten sie den Wasserfall. Die Matriarchin erwartete ein weitaus beschwerlicherer Weg als Earl, der die Klippe einfach hinaufflog, anstatt sie zu umrunden. Die Nacht hatte das Tal derweil fest umschlungen, als die alte Leitkuh oben ankam. Am Hang des Berges, der nur noch wenige Kilometer von ihnen entfernt lag, strahlten grelle Lichter, die keinen natürlichen Ursprung hatten – das Lager der Waldarbeiter.
»Wir sollten vorsichtiger sein. Bis zu den Menschen ist es nicht mehr weit …«, sagte Earl.
»Diese Plage. Selbst dieses Tal scheint nicht sicher vor ihnen zu sein«, seufzte die Matriarchin und blickte von der Klippe aus mit Sorge auf den Wald, der ihrer Herde eine Heimat bedeutete. »Die meisten von ihnen kommen nur hierher, um zu zerstören. Der Leopard frisst, wenn er hungrig ist, wie das Krokodil oder die Hyänen. Alles ist in einem empfindlichen Gleichgewicht. Doch die Menschen nehmen sich, was sie wollen. Sie kennen nichts weiter als Gier und Zerstörung. Ich hoffe, Juno ist nicht bei ihnen.«
»Sie sind uns Tieren gar so unähnlich. Das heißt im Kern vielleicht«, sagte Earl, als er an das zurückdachte, was er in der Stadt gesehen und erlebt hatte.
»Was bringt dich auf diese wahnwitzige Idee? Wenn ich mich auf das verlasse, was ich über sie gehört und gesehen habe, wage ich es, ein anderes Urteil zu fällen. Diese nackten Affen sind eine Krankheit. Dieser Wald war eines der letzten Reservate, aus denen sie sich fernhielten.«
»Ich weiß …«, antwortete Earl und dachte an das, was der Papagei ihm über die Menschen erzählt hatte. »Sie tun komische Dinge. Sie bekriegen sich für Geld, bunte Steine, Ländereien und andere Nichtigkeiten. Aber nicht alle sind so. Es gibt auch andere. Ich habe Güte und Liebe unter ihnen gesehen. Ich verstehe nicht viel von der Liebe. Ich bin ein rastloser Waldbewohner. Aber man sagt ihr nach, dass sie alle Grenzen überwindet. Ich denke, mir offenbart sie sich dadurch, meiner Natur gerecht zu werden. Vielleicht auch durch all die Tiere, die ich auf meinem Weg hierher kennenlernte. Sie scheint eine Kraft zu sein, die es vermag, mit den Gesetzen der Natur zu brechen. Vielleicht auch ein Weg, ihr gerecht zu werden …«
»Du hast Güte unter den Menschen gesehen?«, fragte die Matriarchin ungläubig.
»Ja, das habe ich. Meinen ersten Winter verbrachte ich bei ihnen.«
»Du hast freiwillig bei ihnen gelebt?«
»Nicht ganz. Genau genommen hatte ich keine Wahl. Ich war ein Spätzünder. Brach mir die Schwinge und lernte erst spät das Fliegen. Der Winter kam und wäre ich im Wald geblieben, wäre ich womöglich verhungert …«
»Was ist ein Winter?«, fragte die Matriarchin, der die Jahreszeiten der Nordhalbkugel fern schienen.
»Die dunkelste Zeit im Jahr«, entgegnete Earl. »Sie folgt dem Herbst, wenn die Bäume ihre Blätter verlieren. Die Tage sind kurz und die Nächte umso länger. Alles legt sich zur Ruh, die Welt steht still, gehüllt in Schnee, gefroren durch Eis. Es lässt Flüsse und Seen erstarren und das Leben scheint zu verschwinden ... Bis es irgendwann im Frühjahr wiederkehrt, wird einige Zeit vergehen. Ein …«
»… ewiger Kreis«, beendete die Matriarchin Earls Satz und blickte nachdenklich auf das Tal. »Die Gesetze der Natur sind allgegenwärtig. Genau wie hier. Anders als ihr unterscheiden wir nur zwischen der Trocken- und der Regenzeit. Ein fein ausgewogenes Gleichgewicht«, sagte die Matriarchin und sah besorgt zum Himmel. »Dieses Jahr ist die Regenzeit spät dran. Schlecht für den Wald. Die Pflanzen trocknen aus und die Wasserlöcher versiegen. Nur der Fluss währt ewig. Er bietet uns ein Zuhause. Heimat und Zuversicht.«
»Und wenn ihr durch die Menschen dazu gezwungen sein werdet, ihn zu verlassen?«
»Es ist nicht dieser Fluss, der unsere Heimat ausmacht«, sagte die alte Elefantendame und blickte zu Earl. »Du als Herumtreiber solltest das wissen.«
Earl schluckte und dachte daran, was Ilvy ihm gesagt hatte. Dass die Heimat eines Kuckucks in seinem Herzen lag.
Die alte Elefantenkuh fuhr fort.
»Ich sehe in deinen Augen, dass du so etwas wie eine Heimat gefunden hast. Juno erzählte mir, du nennst es deine Natur.«
»Als Jungvogel sträubte ich mich dagegen, anzuerkennen, wer ich bin«, seufzte Earl. »Ich dachte, ich wäre frei, wenn ich einen Weg finden würde, meine Natur zu überwinden. Nach ihr zu leben, kam mir nicht in den Sinn. Ich versuchte, vor ihr zu fliehen. Mir fehlte jedweder Instinkt. Ich hörte, dass die Menschen einen Weg gefunden hätten, ihrer Natur zu trotzen. So zog es mich zu ihnen.«
»Und machte es dich frei?«
»Nein …«, seufzte Earl und dachte an seine Reise zurück. »Die Menschen erschienen mir stets als übernatürliche Kreaturen. Aber das sind sie nicht. Die meisten dieser bemitleidenswerten Zweibeiner sind gefangen. Durch die Hürden ihrer Welt verlieren sie im Laufe des Heranwachsens das Kribbeln in ihren Schnäbeln, wenn sie nicht darauf achten. Sie tun Dinge, die sie nicht tun wollen, um sich Dinge leisten zu können, die sie nicht brauchen oder nur, weil die anderen es sagen. Die Wenigsten wagen es, ihrer eigenen Natur zu folgen … Genau wie ich zu dieser Zeit. Ich habe nie meinen Platz in der Welt finden können ... Ich hätte mir nie erträumt, einmal in den Süden zu fliegen. Es ist schwer dort draußen, wenn einen von Nest auf das Gefühl begleitet, nirgendwo hineinzupassen.«
»Und trotzdem bist du hier«, bemerkte die Matriarchin.
Mittlerweile war die Sonne gänzlich verschwunden. Abertausende Sterne nahmen ihren Platz ein, die funkelnd über dem Wald erschienen.
»Ja, das bin ich. Und denselben Dickkopf sehe ich auch in deiner Enkelin«, sagte Earl und fuhr leise fort. »Vermutlich ist sie mir deshalb so ans Herz gewachsen ...«
»Ich schätze, ich muss mich bei dir entschuldigen«, sagte die Matriarchin.
»Entschuldigen? Wofür?«
»Die Sache hier zeigt mir, was Juno dir bedeutet. Auch wenn wir beide unterschiedliche Meinungen haben, was ihr Wohlergehen betrifft. Ich hoffe, sie steckt nicht in Schwierigkeiten …«
»Deine Enkelin mag vieles sein, aber vor allem clever. Wir werden sie finden, das weiß ich«, entgegnete Earl.
Die alte Leitkuh sah verwundert zu ihm auf.
»Was bist du überhaupt für ein Vogel?«, fragte sie.
»Ein Kuckuck«, antwortete Earl mit Stolz. »Da, wo ich herkomme, nennt man unsereins Zugvögel. Aber ja, Herumtreiber trifft es auch ganz gut.«
»Ich habe Vögel wie dich kommen und gehen sehen«, bemerkte die Matriarchin und blickte zum Mond, der hinter den Bergrücken auf der anderen Seite des Tals am Himmel emporkletterte. »Aber einer wie du begegnete mir wohl nur ein einziges Mal in meinem Leben«, sagte sie und schaute mit einem warmen Gesichtsausdruck zu Earl. »Als ich klein war, man mag es kaum glauben – da war ich wie meine Enkelin. Eigensinnig, widerspenstig und unverschämt neugierig. Auch mir begegnete ein Zugvogel, der mir von seiner Reise erzählte. Ich schätze, das hat mich für mein Leben geprägt. Denn diesen Dickkopf habe ich mir bewahrt und heute entscheidet er über das Wohl meiner Herde. Es erfordert Verantwortung und Vernunft. In letzterer habe ich wohl verlernt zu sehen, was Juno wirklich ist und wie ähnlich wir uns doch sind … vielleicht wird sie eines Tages meinen Platz einnehmen. Womöglich war ich deshalb zu streng zu ihr …«
»Kopf hoch, wir finden sie. Dann kannst du ihr das alles selbst sagen«, sagte Earl und flog weiter voraus.
...
Kuckolores
-Cooming soon ... -
Bei dem folgenden Zusammenschnitt handelt es sich um eine Kurzgeschichte, die es tatsächlich in meinen Debütroman "Mir selbst so fern" geschafft hat und die Reise seines Protagonisten spiegelt.
Es war einmal …
So beginnen vielleicht die meisten Geschichten, die etwas auf sich halten. Doch diese nicht. Denn am Anfang aller Tage war das Nichts. So würde man es vielleicht bezeichnen, wenn es in der menschlichen Sprache einen Namen dafür gäbe. Manche nennen es das Davor, wieder andere die Weltenseele. Jene sonderbare Kraft, die es gab, lange bevor die Idee von Zeit und Raum geboren war. Denn beides wurzelte aus ihrem sehnlichsten Wunsch – das Geheimnis nicht länger für sich zu behalten, das sich ihr im Angesicht der Ewigkeit offenbarte. Jene Wahrheit, die aus der Unendlichkeit zu ihr sprach – der Kern allen Lebens.
Nach ihrem Abbild formte sie die Welt. Vom kleinsten Kiesel bis zum größten Berg. Von der zarten Blume bis zum grobrindigen Baum. Von den Sternen bis zum dunkel verhangenen Horizont, über den sie sich erhoben, um dem Mond nahe zu sein. Jedes Glied war eins mit der Schöpfung, verbunden mit der einen Wahrheit, die sich der Weltenseele offenbart hatte und sich über den gesamten Kosmos ausbreitete.
Und eines Tages, als ein sterbender Stern seinen Weg zur Erde fand, brachte er dem leblosen Planeten das Wasser. Am Orte seines Aufpralls entstand eine nie versiegende Quelle. Und dem Wasser folgte das Leben.
Im verglimmenden Schein des Sterns brachte die Quelle die sonderbarsten Kreaturen zum Vorschein. Von der Stechmücke bis zum größten Säugetier. Dem schimmernden Licht des Sterns entnahmen sie die Wahrheit und wagten es, unhinterfragt nach ihr zu leben.
Als der Stern beinahe erloschen war, entstieg dem Wasser ein Wesen, das anders sein sollte als alle anderen. Denn als der Stern im selben Augenblick verglühte, erfuhr der Mensch als einziges Wesen von der Vergänglichkeit. Vielleicht war es gerade diese Eigenschaft, die ihn von allen anderen Kreationen der Schöpfung trennen sollte. Der Stern erlosch und wurde eins mit dem Wasser der Quelle. So schenkte er ihm sein größtes Vermächtnis. Das Geheimnis der Weltenseele. Die eine Wahrheit, die Mensch in der Oberfläche für sich erkannte.
Wie kein anderes Lebewesen vermochte er es, die Welt nach seinen Vorstellungen zu formen. Und doch wuchs in seinem Herzen die Angst, dass die Vergänglichkeit ihm jenes Glück nehmen könne. Von Zwiespalt und Unsicherheit getrieben, machte er sich die Natur zu untertan. Unwissend, dass er dabei war, seine eigene zu vergessen. Denn je weiter er sich entwickelte, umso weiter entfernte er sich von der Quelle und somit auch von der Wahrheit und dem Vermächtnis des Sterns.
Die Jahrtausende vergingen. Und auch wenn der Mensch derweil seine eigenen Götter geschaffen hatte, wagten es noch einige wenige, zu träumen. Davon, dass es in den fernen Bergen – dort, wo das Abendrot die Dämmerung umarmte – noch immer jene Quelle gab, an der der Stern auf die Erde traf.
Es war zu dieser Zeit, als ein kleiner Junge auf die Welt kam. Sein Name war Nilo. Er wuchs in einem Dorf auf, nahe der Berge, hinter denen die Sonne Tag für Tag den Himmel hinaufkletterte. Seine Eltern waren gewöhnliche Leute, umso mehr lastete die Hoffnung der Familie auf Nilo. Seine Mutter hegte immer den Wunsch, dass er glücklich werde. Frei nach der Wahrheit der Weltenseele, denn in der Liebe zu ihrem Sohn hatte sie sie gesehen. Seine Großeltern wünschten sich, dass er die großen Universitäten des Landes besuchen würde. Sie sahen in ihm stets das Wunderkind, den zukünftigen Gelehrten. Und sein Vater wünschte sich, dass aus ihm einmal ein erfolgreicher Geschäftsmann werden würde und es ihm einmal besser gehen sollte als seinen Eltern. Aber Nilo war anders …
Er war ein Träumer. Er sah die Welt mit anderen Augen. Und obwohl er die Gabe hatte, ihre Schönheit zu erkennen, fiel es ihm schwer, seinen Platz darin zu finden. Die Jahre lehrten ihn Gehorsam und Disziplin. Er lernte früh, dass jeder an ihm Gefallen fand, wenn er den Wegen der Allgemeinheit folgte. Er besuchte die besten Schulen und strebte danach, den Erwartungen seiner Familie gerecht zu werden.
Eines Abends, als er mit seiner Mutter am Waldesrand saß und die Sonne dabei war, sich in den roten Wolken am Horizont aufzulösen, erzählte sie ihm die Geschichte des Sterns. Von dem Geheimnis der Weltenseele und der Wahrheit, die im Wasser der Quelle auf ihn wartete. Nilo war noch klein. Er konnte mit den Worten nicht viel anfangen. Doch was jener Abend in ihm hinterließ, war ein warmes Gefühl. Die stille Sehnsucht vom Wasser der Quelle zu kosten und vielleicht darin das Glück zu finden, das er sich für sein Leben erhoffte. Im Schein des Abendrots passierte etwas mit ihm. Er hörte eine Stimme in seinem Inneren, flüsternd und leise, die versprach, ihm eines Tages das Geheimnis der Weltenseele zu offenbaren. Fortan war es immer wieder derselbe Traum, der Nilo in stillen Nächten heimsuchte und die Gewissheit in ihm zutage brachte, dass es sein Schicksal wäre, die Quelle zu finden.
Die Jahre vergingen und aus dem kleinen Jungen wurde ein ansehnlicher junger Mann. Doch je älter Nilo wurde, umso mehr verblassten die Worte seiner Mutter zu einer vagen Erinnerung, wie der Gipfel eines Berges vom Nebel des Vergessens verschlungen. Und mit ihm auch die Stimme in Nilos Inneren, die ihm in Jugendjahren versprochen hatte, ihm eines Tages das Geheimnis der Weltenseele zu offenbaren. Dem Weg der Allgemeinheit folgend, hatte Nilo nichts unversucht gelassen, den Erwartungen seiner Familie gerecht zu werden. Er hatte sich in der Schule bemüht, einen rentablen Beruf erlernt und hatte Aussicht auf einen gut bezahlten Posten. Schon bald darauf lernte er eine junge Frau kennen. Sie heirateten und im Zuge ihrer Zweisamkeit lernte Nilo, was es bedeutet zu lieben.
Wahrscheinlich war es eben dieser Segen, der Nilo eines Abends das Abendrot so sehen ließ wie in den Tagen seiner Kindheit. Er erinnerte sich an den Abend, als seine Mutter ihm von der Quelle erzählte und er zum ersten Mal die Stimme in seinem Inneren hörte – an jenen vergessenen Traum aus Kindheitstagen, der ihm fortan keine Ruhe lassen sollte. Sein Leben hielt so viele Möglichkeiten für ihn offen und doch keimte in Nilo die Gewissheit, dass es für ihn nur die eine gab – die Quelle zu suchen und jenes Glück zu finden, was er sich davon versprach – seine Wahrheit.
Er kannte zwar die Richtung, doch der Weg war ihm ungewiss. Er reiste durch das Land, traf Wanderer, die dasselbe Ziel suchten, Prediger und Philosophen. Er folgte den Ratschlägen der Ältesten und Weisesten. Sie alle meinten den Weg zur Quelle zu kennen, aber wann immer Nilo sich auf ihre Worte einließ, verlief er sich.
Und war er auch manches Mal kurz davor aufzugeben, hörte er auf die Stimme in seinem Inneren, die in stillen Momenten zu ihm sprach. Nilo erinnerte sich an ihr Versprechen, seine Wahrheit und mit ihr sein Glück zu finden. Sie hatte versprochen, ihm das Geheimnis der Weltenseele zu offenbaren. Nilo lernte, ihr zu vertrauen. Im Laufe des Erwachsenwerdens hatte er sie beinahe vergessen. Ihr Gehör zu schenken, tauchte sein Herz in Licht und trennte ihn von all den Schatten, die die Jahre des Vergessens in ihm hinterlassen hatten.
Den Warnungen der Ältesten trotzend, stieg er auf ein Floß und ruderte über den großen Fluss gen Westen, dem Abendrot entgegen. Und noch ehe es wieder Tag wurde, erreichte er das verlorene Land auf der anderen Seite. Er überquerte die unendlichen Wiesen, die hinter dem Ufer des Flusses lagen und den Wald des Vergessens. Frei von Furcht und Zweifeln, ohne Ruhe und ohne Rast – einzig besonnen auf die Stimme, die ihm den Weg wies. Er erklomm die fernen Berge und ehe die Abendsonne das nächste Mal die Dämmerung umarmte, erreichte er von Müdigkeit und Durst geplagt die Quelle.
Er sah in das Wasser und erblickte sein Spiegelbild. So wie an diesem Tag hatte er es nie zuvor gesehen, denn in seinen Augen erkannte er die Wahrheit, das Geheimnis der Weltenseele. Der Geist des Sterns erschien ihm. Er schätzte die Mühen, die Nilo auf sich genommen hatte, und so gewährte er ihm, sich ein Glas Wasser aus der Quelle zu nehmen. Wo auch immer das Wasser auf fruchtbaren Grund treffen würde, würde ein Ableger der Quelle entstehen.
Nilo füllte das Glas mit so viel Wasser, wie dieses vermochte zu tragen und machte sich auf den Heimweg. Bevor er ging, erteilte der Geist des Sterns ihm noch eine Warnung. Das Glas würde sich immer wieder auffüllen, wenn er davon tränke, doch was er verschüttete, wäre für immer verloren.
In der Gewissheit, diesem Schicksal fern zu sein, machte Nilo sich auf den Rückweg. Er träumte schon von einem heimischen Brunnen und davon, denen, die er liebte, die Wahrheit nahezubringen, die das Wasser ihm offenbart hatte. Er fragte sich, was seine Frau dazu sagen würde. Würde sie ihn wiedererkennen? Er hatte sich verändert, die Reise hatte ihn geprägt. Er war nicht länger der junge Mann, der aufbrach, um seinen Traum zu verfolgen. Nein – nun hielt er ihn in seinen Händen. Klein und zerbrechlich, doch Nilo war sich sicher, dass er ihn nicht verlieren würde.
Er folgte nach wie vor der Stimme in seinem Inneren. Seit er seine Wahrheit im Wasser gesehen hatte, hörte er sie klarer denn je und doch fiel es ihm während des Abstiegs in das Tal zunehmend schwerer, ihr Gehör zu schenken. Stattdessen vertraute er lieber auf die Pfade, die ihm noch vom Hinweg im Gedächtnis geblieben waren. Er folgte den Fußstapfen all jener, die den Weg vor ihm beschritten hatten und merkte dabei nicht, wie er durch seine Unachtsamkeit einen kleinen Teil des Wassers verschüttete.
Als er den Wald des Vergessens erreichte, war es bereits Nacht. Er fürchtete sich, denn er kannte den Weg nur bei Tage. Ungewissheit und Angst zerrten an seinen müden Gliedern. Er ließ das Glas aus den Augen und achtete mehr darauf, nicht über die zahlreichen Wurzeln der Bäume ins Straucheln zu geraten. Dabei merkte er nicht, dass er im Dunkel der Nacht abermals etwas von dem Wasser verschüttete.
Bei Einbruch der Morgendämmerung hatte er den Wald des Vergessens hinter sich gelassen. In Gedanken schon der Heimat nahe, überquerte er die unendlichen Wiesen, als plötzlich ein Wolf aus dem hohen Gras gesprungen kam. Wäre Nilo nicht den durchgetretenen Wegen gefolgt, wäre er dem Wolf gar nicht erst begegnet, doch der Wolf kannte die bekannten Pfade und hatte ihm aufgelauert. Er wusste um all die schwachen Wanderer, die im Angesicht der Ferne das Wasser verschütteten und durch ihren Durst geschwächt leichte Beute waren. Doch Nilo war nicht durstig. Seiner Achtsamkeit geschuldet hatte er noch genug Wasser und Kraft, um dem Wolf seine Fackel entgegenzustrecken und ihn in die Flucht zu schlagen. Doch ehe er sich dessen bewusst wurde, geriet er ins Stolpern und verschüttete beinahe das gesamte Glas.
Dennoch blieb er zuversichtlich. Solange ihm auch nur ein Tropfen verblieb, war der Traum der heimischen Quelle nicht verloren. Er überquerte den Fluss und noch bevor die Sonne des fünften Tages unterging, erreichte er seine Heimat.
Als er zu Hause ankam, musste er feststellen, dass diese sich verändert hatte. Seine Frau hatte ihn in der Zwischenzeit verlassen. Sein lang ersehnter Job ging an jemand anderen und der Hof seiner Familie, der ihm seit seiner Kindheit ein Zuhause war, war niedergebrannt. Von der Wirklichkeit überwältigt, sackte Nilo auf die Knie. Das Glas entglitt seinen Händen und zerschellte.
Das Wasser war verschüttet. Im Erdboden versickert, ebenso wie alles andere, an das Nilo je geglaubt hatte. Vom Hof seiner Kindheit war nicht mehr als ein dunkler Haufen Asche geblieben. Seine Familie hatte sich im Zuge dessen zerschlagen. Die Aussicht auf einen rentablen Job schien in unerreichbare Ferne gerückt und die Liebe seines Lebens verkam zu einer ausbleichenden Erinnerung. Seine innere Stimme hatte ihn verlassen und die Leere, die er lange überwunden glaubte, keimte in ihm auf.
Heimatlos durchstreifte er das Land, schlief unter Bäumen und löschte seinen Durst aus Flüssen. Rastlos, ohne Plan und ohne Ziel. Er lief, bis ihm die Füße bluteten. Und war sein Herz in jungen Jahren noch voller Hoffnungen und Wünsche, so hegte er nur noch den einen – dass alles enden würde. Die Tür in sein altes Leben schien verschlossen und so sehr er sich auch bemühte, daran anzuknüpfen, so wollte es ihm nicht gelingen. Er war ausgezehrt von der Reise, müde von diesem Leben, dessen Sinn mit dem Glauben an seine Wahrheit im Erdboden versickert war. Und wenn er nun des Abends zu den fernen Bergen blickte, in denen die Quelle gelegen war, so schämte er sich. Dafür jemals den Leichtsinn besessen zu haben, daran zu glauben, dass ihr Wasser ihm seine Wahrheit bringen würde.
Es geschah an einem dieser Abende, als Nilo am Fluss unter den Zweigen einer Weide saß und den Sonnenuntergang beobachtete. Die Nacht hatte das Land bereits umschlungen, als ein Rudel hungriger Wölfe auftauchte. Nilo war zu müde und kraftlos, um zu fliehen. Sie fielen über ihn her, zerbissen ihm den Fuß und zerfleischten seine Beine.
Mit letzter Kraft kletterte er die Weide hinauf. Die Wölfe schnappten nach ihm und sprangen am Stamm empor. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er sich nicht länger halten könnte und die Nacht schien ewig. Zu seinem Glück kam ein Wanderer den Weg entlang. Mit seiner Fackel verscheuchte er die Wölfe und brachte Nilo in Sicherheit. Er nahm ihn mit zu sich nach Hause und versorgte seine Wunden.
Die Tage verstrichen. Als Nilo wieder halbwegs laufen konnte, trat er aus dem Haus und traf auf den Wanderer. Er wollte ihm danken, doch der Wanderer wies ihn zurück und zeigte stattdessen auf den kleinen Brunnen in der Mitte des Hofes.
Als Nilo hineinschaute, erblickte er sein Spiegelbild. Verschwommen und schwach, aber es erinnerte ihn an die Klarheit seiner Augen, als er zum ersten Mal in das Wasser der Quelle sah. Und mit einmal vernahm er wieder diese leise Stimme in seinem Inneren, die ihn flüsternd an ihr Versprechen erinnerte – ihm das Geheimnis der Weltenseele nahezubringen – seine Wahrheit, die er seit jenem Tag verloren glaubte, als er von seiner Reise zurückkehrte.
Wie Nilo von dem Wanderer erfuhr, war dieser vor etlichen Jahren selbst aufgebrochen, um die Quelle zu suchen. Er hatte es geschafft, das Wasser bewahrt und hier auf seinem Hof seinen eigenen Ableger geschaffen. Im Angesicht seines Spiegelbildes keimte der Wunsch in Nilo, erneut nach der Quelle zu suchen.
Die Wochen vergingen. Bis er vollends genesen war, gewährte der Wanderer ihm Obdach. Mit jedem weiteren Tag gewann die Stimme in seinem Inneren an Kraft und brachte die Hoffnung in ihm zum Vorschein, die er lange verloren glaubte.
Als die Zeit gekommen war, verabschiedete Nilo sich von seinem Gastgeber und machte sich auf die Reise. Er folgte seiner inneren Stimme zu den Bergen und erreichte zum zweiten Mal die Quelle.
Der Geist des Sterns erschien ihm. Doch anders als beim ersten Mal verwehrte er Nilo das Wasser. Verzweifelt erzählte dieser ihm, was er in der Zwischenzeit alles erlebt hatte. Welche Mühen es ihn gekostet hatte, ein weiteres Mal den Weg zu finden und davon, dass dieser Traum alles sei, was ihm geblieben war. Doch der Stern schickte ihn fort. Statt des ersehnten Wassers gab er Nilo lediglich einen Ratschlag mit auf den Weg. Er erinnerte ihn an die Stimme in seinem Inneren und riet ihm, ihr zu folgen. Sie allein würde ihm dem nahebringen, wonach er sich sehnte und würde er an jener Stelle, an der sein Herz verloren lag, eine Grube ausheben, so würde er finden, wonach er suche.
Enttäuscht machte Nilo sich auf den Rückweg. Dennoch beherzigte er den Rat des Sterns. Während des Abstiegs stellte er sich Not und auch Zweifeln, blieb ganz bei sich und folgte seiner inneren Stimme.
Schon nach kurzer Zeit hatte er die Berge und den Wald des Vergessens hinter sich gelassen. Anders als beim ersten Mal, brachte ihn keine Wurzel zu Fall, denn Nilo achtete darauf, wo er hintrat. Er folgte nicht länger den Fußspuren der anderen. Umso bewusster achtete er auf die Spuren, die er selbst hinterließ. Und so kreuzte nicht ein Wolf seinen Weg, als er die unendlichen Wiesen durchquerte und über den Fluss nach Westen ruderte.
Er vertraute weiter auf seine innere Stimme, kehrte in das Dorf zurück, in dem er aufgewachsen war und begann, den Hof seiner Familie wieder aufzubauen. Ihr Erbe war nicht verloren, denn durch Nilos Gedenken lebte es weiter.
Und noch bevor der letzte Ziegel verbaut war, lernte er eine Frau kennen. In ihren Augen erblickte er sein unverfälschtes Spiegelbild und fand darin die Liebe tief in seinem Inneren, die er glaubte verloren zu haben, als das Glas zerbrach und das letzte bisschen Wasser versiegte. Er erinnerte sich an die Worte des Sterns und als der Tag gekommen war und das Abendrot jene Stelle erleuchtete, an der er vor Jahren das Glas fallen ließ, begann er eine Grube auszuheben.
Er grub bei Tag und bei Nacht. Und schnitt er sich manches Mal an den Scherben des Glases, so erinnerte er sich mit jeder Handvoll Erde an all die Schritte, die ihn hierhergeführt hatten, an diesen Ort zu diesem Augenblick. Manchmal war er daran aufzugeben, doch dann hörte er wieder die Stimme in seinem Inneren und grub weiter. Und noch ehe der letzte Spatenstich hervorbrachte, was der Stern ihm versprochen hatte, wurde ihm bewusst, dass er es schon lange gefunden hatte. Denn das Glück lag in ihm. Die Wahrheit in der Stimme in seinem Inneren. Und wenn er von nun an zu den fernen Bergen blickte, verspürte er die friedliche Gewissheit, die diese Reise in ihm hinterlassen hatte.
Ein verschwommener Film aus Feldern zog an mir vorbei, während ich verträumt und in Gedanken versunken aus dem Fenster blickte. Der langsam erkaltende Schleier des Spätherbstes lag über der Landschaft und ließ noch vereinzelt das goldene Laubwerk aufblitzen, welches an wärmere Tage erinnerte. Ich blickte in den Himmel und beobachtete, wie die Wolken ihren wechselhaften Tanz mit den hin und wieder durchbrechenden Sonnenstrahlen aufführten.
Je weiter wir dem Ziel kamen, umso mehr ergrauten Himmel und auch Landschaft. Seit dem letzten Treffen an diesem Ort war viel Zeit vergangen. Fast ein Jahr, als wir uns alle wiedersahen. Ich dachte nach. Über das, was hinter uns lag und jenes Undurchschaubare, was noch vor uns liegen würde.
Der Anlass des heutigen Treffens war ebenso traurig, wie schwermütig. Meine Gedanken kreisten. Nostalgisch dachte ich an die etlichen Male zuvor, die wir an diesem Ort zusammenkamen, den die Zeit uns nun zu entreißen drohte. Ein stiller Abschied, ein Übergang zu einem neuen Kapitel stand uns bevor. Für die einen mehr, für die anderen weniger. Doch eins stand fest – so wie heute würden wir uns nie wieder sehen.
Die Dämmerung hatte den Himmel bereits fest im Griff, als wir am späten Nachmittag die alte Heimat erreichten. Es hat immer wieder etwas Mystisches an sich, hierher zurückzukehren. In dieses Dorf, mit dem jeder von uns – ganz für sich und im Stillen – eine tiefe Bindung teilt. Erinnerungen, Kindheit – Familie.
Die bröckligen Straßen waren noch immer dieselben und auch die Häuser hatten sich kaum merklich verändert. Als hätte dieses Fleckchen Erde sich gänzlich dem Würgegriff der Zeit entzogen. Gebadet in Erinnerung fuhren wir den altbekannten Weg, welcher uns hier und da eine kleine Anekdote bereithielt.
Als wir in die Zielstraße einbogen, machte sich der Schwermut breit. Was würde uns heute erwarten? Wir parkten vor der Haustür, schnellten durch den Regen zum Vordach und klingelten. Als wäre es wie immer, doch heute war es anders.
Das Zusammentreffen war von einer Atmosphäre umgeben, die Freude und Trauer in sich einte. Als wir die Wohnung betraten, standen bereits Koffer und Kartons im Flur, die Schränke waren geöffnet. Die Freude des Wiedersehens war groß, auch wenn sie nur ein kleiner Lichtblick in dem Schatten war, den der heutige Anlass aufwarf. Und dennoch hatte es denselben kindlichen Zauber in sich, als ich an diesem Tag die große Gefriertruhe öffnete, die damals stets unser Lieblingswaffeleis bereithielt. Ein letztes Mal.
Wir teilten uns auf, packten Koffer und Kartons und begannen die Sachen für den Auszug vorzubereiten. Während wir Schrank um Schrank durchwühlten, entdeckten wir alte Artefakte, Fotoalben und Erinnerungen. Sie steckten in jedem Quadratmeter dieser Wohnung. Sie entführten uns in längst vergessene Zeiten. Fotos, die uns zeigten, dass es nicht immer so war. Die uns vor Augen riefen, wie der Zahn der Zeit, dem Familienglück zugetragen hatte. Ein tieferes Zusammenkommen, als dieses hatten wir selten erlebt. Die Monate davor. Die Wochen vor der Entscheidung. Die Zeit unterzog uns einer harten Probe. Die einen mehr, die anderen weniger, doch letztendlich war das Entscheidende, dass wir da waren. Der daraus hervorgehende Familiengeist, war in all seiner Wärme, aber auch seinen Abgründen zu spüren.
So auch, als ich in Omas Arbeitszimmer betrat, in dem sich bergeweise Fotos und Alben türmten, die von meinen Cousins und Cousinen lachend durchwühlt wurden. Es waren mehr als nur Bilder. Manche waren auseinandergeschnitten, alten Fotoalben entrissen und auf Blätter geklebt. Beschriftet mit kleinen Notizen und Gedankenbruchstücken auf der Rückseite.
Mich beschrieb sie mich als ihren kleinen Lockenkopf. Immer lachend und fröhlich. So hatte ich sie auch in Erinnerung, bevor sie den Depressionen und dem Alkohol erlag. Der Mensch, der sie einst war und der, den das Leben aus ihr machte.
Inmitten dieser wahnsinnig wirkenden Notizen sah ich ihr Herz. Die Schwere der Vergänglichkeit, die es ertragen musste, die sich für uns junge Menschen kaum erahnen lässt. Ich fühlte ihren Schmerz und die Ohnmacht, die sie zu dem unkontrollierten Nervenbündel machten, das sie heute war. Zehn Jahre lang hatte sie ihren dementen Mann Zuhause gepflegt. Bis er eines Tages von uns ging. Als er seinen Frieden fand, musste sie mit dem Loch leben, das er hinterlassen hatte. Wer war ich, ihr jemals Vorwürfe gemacht zu haben? – Fragte ich mich, während eine Träne der Vergebung meine Wange hinunterlief und auf das Foto tropfte, auf dem sie ihren kleinen Lockenkopf im Arm hielt.
Es hatte beinahe schon etwas Weihnachtliches, als wir uns gegen Ende alle in der Stube wiederfanden. Viele Feiertage oder andere Anlässe hatten uns hier zusammengeführt. Mit der Zeit wurden diese Treffen immer seltener und auch das Weihnachtsfest verlor an Tradition und Wärme. So blieb uns in den letzten Jahren zumeist nur ein merkwürdig anlastender Besuch in der Klinik. Frühling und Winter – Weihnachten im Herbst. Der Gedanke, dass dies das letzte Mal sein würde, festigte sich langsam, aber schmerzlich. Denn das, was wir an diesem Tag eigentlich reisefertig machten, war unsere Erinnerung. Und für diese bin ich dankbar. Denn wenn uns alle etwas verbindet, so ist es das innige Gefühl, das wir aus dieser Zeit ziehen.
Familie …